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Observatorio da Democracia

Soziale Ungleichheit und die Aushöhlung der Demokratie

Von Tomás Rigoletto Pernías

Es ist ja nicht so, dass es nicht ausreichend Instrumente dafür gäbe, die zunehmende soziale Ungleichheit einzudämmen. Man kann Supergehälter und Vermögen besteuern und den Mindestlohn erhöhen. Mittel und Wege, etwas gegen den Anstieg der sozialen Ungleichheit zu unternehmen, gibt es im Überfluss.

Man sollte annehmen, dass die Regierung eines demokratischen Landes mit Leichtigkeit in der Lage wäre, die zunehmende soziale Ungleichheit einzudämmen, indem sie politische Maßnahmen zur Umverteilung des Einkommens und zur Dekonzentration von Vermögen umsetzt. Dem liegt ein ganz einfaches Prinzip zugrunde: In dem Maße, in dem sich der Wohlstand immer stärker in den Händen einer kleinen Minderheit konzentriert, wird die große Mehrheit der Bevölkerung mithilfe der Mechanismen der demokratischen Vertretung schließlich die Konzentration des Wohlstands umkehren, indem sie ihre Macht als Mehrheit der Wählerschaft ausübt. Diejenigen, die durch soziale Ungleichheit benachteiligt sind, könnten Einfluss auf die staatliche Politik nehmen, die Verteilung der wirtschaftlichen Gewinne abändern und so die Konzentration von Einkommen und Vermögen umkehren. Das sind nachvollziehbare Annahmen, die auf den ersten Blick auch umsetzbar erscheinen.

Trotzdem stehen diese Annahmen im Widerspruch zu dem, was in der "realen Welt" in den letzten Jahrzehnten vor sich geht. Denn sie stützen sich auf eine nicht sonderlich realistische Hypothese: nämlich auf die Vorstellung, dass alle Bürger im selben Maße Einfluss auf die Politik nehmen können. Selbst in Situationen, in denen die Bevölkerung die Dekonzentration von Einkommen und Vermögen befürwortet, findet dieser Wunsch in der Politik keine Unterstützung. Einerseits sind da diejenigen, die bestreiten, dass es das Problem überhaupt gibt. Sie behaupten, die wachsende soziale Ungleichheit bringe keinerlei nachteilige Auswirkungen für die Gesellschaft mit sich. Und andererseits gibt es diejenigen, die erklären, man könne in dieser Sache nichts tun, schuld seien die "Marktkräfte" - wirtschaftliche Mechanismen, neutral und unpersönlich.

Es gibt eine wichtige Hypothese, die vielleicht aus Leichtgläubigkeit, vielleicht auch aus Unwissenheit verbreitet wird und mit der man zu erklären versucht, warum die zunehmende soziale Ungleichheit in modernen Demokratien ein so hartnäckiges Phänomen darstellt. Bei dieser Hypothese geht man davon aus, dass Menschen Ungleichheit gar nicht als echtes soziales Problem wahrnehmen und deswegen nicht auf politische Maßnahmen achten, durch die sich die Einkommensverteilung ändern ließe. Es wird also angenommen, die Menschen würden schlicht ignorieren, dass die Einkommenskonzentration ein Problem darstellt, das es verdient hat, dass der Staat ihm die gebührende Aufmerksamkeit schenkt.

Doch diese Denkweise ist naiv und wenig fundiert. Denn laut einer in den Vereinigten Staaten im Februar 2019 für die New York Times durchgeführten Untersuchung ist die große Mehrheit der Wähler der Ansicht, dass soziale Ungleichheit ein Problem ist, das die Regierung angehen sollte. Die Untersuchung ergab Folgendes: 1) Über 60% der Befragten befürworten die Einführung einer Steuer von 2% auf das Vermögen aller US-Amerikaner, die Anlagevermögen in Höhe von über 50 Millionen US-Dollar besitzen. 2) Die Mehrheit befürwortet die Einführung eines Einkommensteuer-Spitzensatzes in Höhe von 70% für Einkommen in Höhe von über 10 Millionen US-Dollar pro Jahr. Und 3) ist die Mehrheit der Befragten der Ansicht, dass die Regierung Maßnahmen zur Reduzierung der ungleichen Vermögensverteilung ergreifen muss.

Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, dass der Wunsch der Bevölkerung Nordamerikas nach einer weniger ungleichen Gesellschaft auf Schwierigkeiten bei der Erfüllung trifft. Dieses Verlangen nach einer gleichberechtigteren Gesellschaft steht unter anderem im Widerspruch zur Verabschiedung des "Tax cuts and Jobs Act" im Jahr 2017, mit dem die Steuerbelastung für einen Teil der Bevölkerung und Unternehmen in den USA gemindert wurde. Die Besonderheit dieser Initiative bestand darin, dass in ihrem Rahmen den Reichsten Steuerminderungen gewährt wurden, durch die sie mit der Zeit in den Genuss von Abgabensenkungen kommen, die großzügiger ausfallen als die Steuererleichterungen, die Bevölkerungsgruppen unterer sozialer Schichten gewährt werden. Eine Voruntersuchung ergab, dass im Gegensatz zu dem, was Donald Trump und einige mit der Realität nicht allzu vertraute Ökonomen glaubten, die Steuersenkungen nicht zu vermehrten Investitionen geführt haben. Stattdessen führten sie dazu, dass die begünstigten Unternehmen vermehrt Aktien zurückkauften. Es sollte hervorgehoben werden, dass die Aktionäre, die in der Regel zum reichsten 1% der Bevölkerung gehören, von diesem Vorgang stark profitieren.

Ein kürzlich in der Zeitschrift "The Economist" veröffentlichter Artikel erteilte den Argumenten, mit denen die schädlichen Auswirkungen der zunehmenden sozialen Ungleichheit relativiert werden sollten, eine deutliche Absage. In dem Beitrag wurde gezeigt, dass sich die zunehmende Konzentration von Vermögen weder mit der Hypothese, soziale Ungleichheit mache der Bevölkerung nichts aus, noch mit der Hypothese, die westlichen Demokratien seien zu festgefahren, um soziale Probleme zu lösen, ausreichend erklären lässt. In dem Artikel wird festgestellt, dass es in letzter Zeit einen starken wirtschaftspolitischen Richtungswechsel gegeben hat: Die Einkommensverteilung vollzog sich immer stärker zugunsten der Reichen. Gleichzeitig beschäftigten sich die Regierungsbehörden trotz zunehmender sozialer Ungleichheit immer weniger mit der Einkommens-Umverteilung."

Wie die Wirklichkeit zu beweisen scheint, haben die Politiker - obwohl die Bevölkerung das drängende Problem der sozialen Ungleichheit erkennt und sich nach Änderungen zur Abschwächung des Prozesses der Einkommens- und Vermögenskonzentration sehnt - offenbar kein Interesse daran, sich mit diesem "Problem" zu befassen. Angesichts dieses Hindernisses wird im erwähnten Beitrag nahegelegt, dass das Problem zum großen Teil mit folgendem Umstand zu tun hat: In dem Maße, in dem die Ungleichheit zunimmt, steigt auch der Einfluss der Reichen auf die Politik, insbesondere auf die Ausarbeitung politischer Maßnahmen, mit deren Hilfe die Konzentration von Einkommen und Vermögen eingedämmt oder eben verstärkt werden kann.

Im Artikel wird nahegelegt, dass durch zunehmende soziale Ungleichheit tendenziell die politische Macht der Reichen gesteigert wird, wodurch sie in der Lage sind, die Umsetzung des Willens der Bevölkerung zu blockieren. Einerseits drückt sich die wirtschaftliche Macht der Reichen in den umfangreichen Spenden und den Beiträgen zu politischen Kampagnen aus, die direkten Einfluss auf Wahlergebnisse und die künftige Gestaltung der Politik haben. Andererseits sind die Reichen aufgrund ihrer wirtschaftlichen Macht in der Lage, die öffentliche Meinung entsprechend bestimmter eigener Interessen zu prägen. So stellen etwa die Finanzierung von Thinktanks, Investitionen in Werbeunternehmen und das Eigentum an Journalismus-Unternehmen verschiedene Möglichkeiten dar, mittels wirtschaftlicher Macht Einfluss auf die öffentlichen Narrativen zu nehmen und die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf bestimmte "Probleme" zu lenken - und damit weg von anderen Themen. Eine unauffällige, subtile Art und Weise, Einfluss auf die öffentliche Debatte zu nehmen, Standpunkte zu verändern und sorgsam ausgewählte "Wahrheiten" im öffentlichen Bewusstsein zu schaffen.

Im Rahmen einer in der Metropolregion Chicago durchgeführten Studie wurden die politischen Präferenzen der Wohlhabenden untersucht. Man wollte prüfen, inwiefern ihre Überzeugungen von den politischen Ansichten des nordamerikanischen "Durchschnitts" abwichen. Eins der ersten Ergebnisse, die hervorzuheben sind, besteht darin, dass die reichsten Nordamerikaner verglichen mit dem typischen "Durchschnittsbürger" politisch aktiver sind. In der Gruppe der reichen Nordamerikaner, die im Rahmen der Untersuchung befragt wurden, gaben zwei Drittel an, politische Kampagnen finanziell unterstützt zu haben, während bei bei der nordamerikanischen Gesamtbevölkerung lediglich 14% aussagen, politische Parteien oder Kandidaten finanziell unterstützt zu haben. Außerdem wurden die an der Umfrage Teilnehmenden zu einem anderen wichtigen "Mechanismus der Einflussnahme" befragt: zur Möglichkeit des persönlichen "Zugangs" zu Regierungsbeamten. Laut den Daten aus der Umfrage gab die Hälfte der Wohlhabenden an, auf bundesstaatlicher Ebene Kontakt zu Regierungsbeamten zu haben. 40% gaben an, Kontakt zu ihrem Senator aufgenommen zu haben, und 37% hatten Kontakt zu ihrem Abgeordneten. Mehrere Personen nannten sogar den Vornamen der Person, mit der sie in Kontakt standen - ein Anzeichen für ein höheres Maß an Vertrautheit mit ihren "Kontaktpersonen". In Bezug auf die Themen, bei denen es bei den Treffen ging, gab einer der Befragten an: "Ich besitze Aktien verschiedener Banken und war wegen der Rechtsvorschriften besorgt, die er (der Regierungsbeamte) gerade ausarbeitete und von denen ich befürchte, dass sie den Banken sehr schaden können."

Die Umfrage erbrachte noch weitere interessante Einblicke, so zum Beispiel dazu, welche Themen nach Ansicht der Oberschicht auf der Agenda der Regierung Vorrang haben sollten. Die Befragten wurden aufgefordert, die in ihrem Land bestehenden Probleme nach Wichtigkeit einzustufen. Ganz oben auf der Liste standen mit 32% als wichtigstes Problem die Haushaltsdefizite. Dagegen nannten lediglich 11% der Befragten Arbeitslosigkeit und Bildung als dringlichste Problembereiche der USA. Hinsichtlich der Höhe der Staatsausgaben, die ebenfalls Thema der Umfrage war, tendierten die Reichen eher dazu, Ausgabenkürzungen zu bevorzugen, statt die Ausgaben für Beihilfen, wirtschaftliche Unterstützung anderer Nationen, Verteidigung, Gesundheitswesen, soziale Sicherheit und Beschäftigungsprogramme zu erhöhen. Zum Thema "Ungleichheit" ergab die Umfrage Widersprüchliches, wenn auch im Rahmen des Erwarteten: 62% der Umfrageteilnehmer erklärten, in den USA bestünden erhebliche Einkommensunterschiede. Allerdings waren 87% der Befragten der Ansicht, die Regierung sei "nicht dafür zuständig, die Einkommensunterschiede zu mindern". Und 83% sprachen sich gegen eine Umverteilung des Wohlstands mittels einer stärkeren Besteuerung Wohlhabender aus.

Auch wenn man aufgrund des geringen Umfangs der Umfrage mit der Verallgemeinerung der Ergebnisse vorsichtig sein sollte - um die Angaben zu bestätigen, müsste eine größer angelegte Untersuchung durchgeführt werden -, besteht keinerlei Grund zu der Annahme, dass die Angaben auf nationaler Ebene anders ausfallen würden. Von daher wirft die Umfrage durchaus ein Licht auf die politischen Präferenzen der Oberschicht und ist ein Hinweis darauf, dass diese Bevölkerungsgruppe in erheblichem Maße Einfluss auf die Ausarbeitung politischer Maßnahmen nehmen kann.

In der diskursiven Auseinandersetzung über die positiven bzw. negativen Folgen, die soziale Ungleichheit haben kann, lässt sich das derzeitige Ausmaß der Einkommens- und Vermögenskonzentration immer schwerer rechtfertigen. Bei einer Podiumsdiskussion zum Thema Einkommensungleichheit, die der IWF am 19. April 2019 veranstaltete, brachte Christine Lagarde einige bedeutsame Informationen vor. Eingangs erklärte sie, die große Herausforderung der heutigen Zeit bestünde darin, für ein integrativeres Wirtschaftswachstum zu sorgen. Außerdem erklärte die Direktorin des IWF, extreme Ungleichheit behindere das Wirtschaftswachstum, untergrabe das Vertrauen und fördere politische Spannungen. Pinelopi Goldberg, die Chefökonomin der Weltbank, äußerte wiederum, bei der Ungleichheit handele es sich wahrscheinlich um das schwerwiegendste Problem der Industrienationen der heutigen Welt. Die Ökonomin erinnerte daran, dass extreme Ungleichheit zu sozialer Unruhe führe. In diesem Zusammenhang nannte sie die Französische Revolution und die Oktoberrevolution als symbolträchtige Meilensteine eines trostlosen Szenarios in Bezug auf die Konzentration von Reichtum.

Seit Jahrzehnten mehren sich die Hinweise: Es lässt sich nicht mehr überzeugend darlegen, dass die derzeitigen Stufen der Einkommens- und Vermögenskonzentration von Vorteil für Wirtschaft oder Gesellschaft sein könnten. Von daher bleibt die Frage: Wenn es keine stichhaltigen Argumente für das Aufrechterhalten der sozialen Ungleichheit in ihrem derzeitigen Ausmaß gibt, worin besteht dann das große Hindernis, das uns davon abhält, an der Situation etwas zu ändern und dieses schwerwiegende Problem zu bewältigen?

Es ist offensichtlich, dass das große Hemmnis für die Schaffung einer von mehr Gleichheit geprägt Gesellschaft nicht im Wirtschaftsbereich angesiedelt ist, sondern in der Politik: Das Hindernis besteht in einer negativen Korrelation der gesellschaftlichen Kräfte, durch die jegliche Versuche blockiert wird, politische Maßnahmen zur Einkommensumverteilung und zur Dekonzentration von Vermögen auszuarbeiten und umzusetzen. Ab dem Moment, von dem an die Politik nicht mehr auf die Besorgnisse der Bevölkerung eingeht, wird der Staatsapparat zum bloßen Instrument der herrschenden Klasse. Die demokratische Vertretung ist dann nur noch ein wirkungsloser, funktionsunfähiger Mechanismus, mit dem keinerlei Prozesse gesellschaftlicher Veränderung angestoßen werden können.

Im Jahr 1789 standen der französischen Gesellschaft keine der der institutionellen Werkzeuge und Mechanismen zur Verfügung, auf die wir heute zugreifen können, um etwas gegen die steigende Ungleichheit zu unternehmen. Doch mit dem ihr eigenen Einfallsreichtum fand die Menschheit in ihrem historischen Augenblick ein ganz besonderes Instrument zur garantierten Schaffung einer Gesellschaft mit weniger Ungleichheit: die Guillotine.

Vor Kurzem äußerte Johann Rupert, der Verwaltungsratspräsident des Konzerns Compagnie Financière Richemont, zu dem Unternehmen im Luxusgütersegment gehören, insbesondere im Bereich Herstellung von Uhren und Schmuck (Montblanc und Cartier), seine Bedenken angesichts der wachsenden sozialen Ungleichheit. Bei einer Konferenz, die die Financial Times in Monaco veranstaltete, bekannte der Milliardär, der Gedanke daran, wie die Gesellschaft "die strukturelle Arbeitslosigkeit, den Neid und den Hass" bewältigen werde, verursacht durch die Automatisierung der Arbeit, die in den nächsten Jahren auf sie zukomme, habe ihm schlaflose Nächte bereitet. In einem Geistesblitz erklärte der Milliardär, es sei nicht hinzunehmen, dass 0,1% der Bevölkerung die gesamte "Beute" einsteckten - in seinen Worten ungerecht und unhaltbar. "Ich weiß nicht, wie der neue Solidarpakt aussehen wird, den wir haben werden, aber wir sollten lieber einen zustande bringen", so der Milliardär. Es ist ein dünnes Seil, aber Rupert spürt bereits, wie es sich um seinen Hals zusammenzieht. Auch andere Teile der Oberschicht fühlen das Seil, das um ihren Hals liegt. Doch sie machen sich vor, dass es kein Seil ist, sondern eine Kette von Cartier.

In seiner Kolumne in der Zeitung Folha São Paulo rief uns Elio Gaspari in Erinnerung, dass ein Frosch in einem Topf mit Wasser, das langsam erhitzt wird, nicht bemerkt, wie die Temperatur steigt. Weil das Nervensystem der Amphibie den allmählichen Temperaturanstieg nicht wahrnehmen kann, wird sie gekocht und stirbt - buchstäblich, ohne es zu merken. Das Wasser wird auch im Kontext steigender sozialer Unzufriedenheit, allgemeinen Unmuts über die Richtung der Demokratie und Empörung über die Privilegien der "Oberschicht" immer heißer. Anders als der Frosch begreift die Oberschicht sehr wohl, dass das Wasser sich erwärmt. Doch sie glaubt noch immer, sie würde in ihrem privaten Jacuzzi sitzen. Wie die Geschichte lehrt, erfolgt das Kochen langsam, aber es erfolgt ganz sicher. Gekocht werden am Ende beide.