Corona stellt den Hauptmann bloß
Sechs Abende in Folge erhallt in Brasiliens Städten der ohrenbetäubende Lärm der "panelaços", das heißt millionenfach stehen die Brasilianerinnen und Brasilianer auf ihren Balkonen und an ihren Fenstern, um ab 20 Uhr mit Töpfen und Pfannen und Kochlöffeln ausgerüstet, gegen die Bolsonaro-Regierung zu protestieren. Aus São Paulo, Rio de Janeiro und Belo Horizonte zeigten unzählige Videos in den sozialen Netzwerken, wie der über die Stadtviertel hinwegdröhnende Proteststurm besonders auch in den Reichenvierteln ertönte, dort, wo Bolsonaro zu den Wahlen 2018 deutliche Mehrheiten gewann. Wenn die Elite sich abwendet, war das bisher immer ein untrügliches Zeichen dafür, dass eine Regierung in Südamerikas größtem Staat an ihr Ende gelangt ist.
Einzig Bolsonaro scheint dies noch nicht mitbekommen zu haben. Er plaudert weiter Unsinn, verbreitet Lügen und fake news. Er wiederholt Trumps Aussagen jeweils einen Tag später und verharmlost Corona als "Grippechen", sekundiert von seinem Sohn Eduardo Bolsonaro, der den Virus als "chinesischen Virus" bezeichnet. Das forderte den chinesischen Botschafter in Brasília zu einer harschen Antwort heraus und er verlangte eine Entschuldigung. Das wiederum wertete der Außenminister Ernesto Araújo als Affront, so dass China offiziell erklärte, das Ganze werde Folgen haben. Vor allem die Soja-Farmer, Brasiliens Agrobusiness, verfolgen diese Twitter-Gefechte fassungslos-schockiert. Sie bemühten sich, die Wogen zu glätten, woraufhin es Bolsonaro offensichtlich etwas mulmig wurde und er sich zu erklären beeilte, sein Sohn Eduardo Bolsonaro sei doch nur Abgeordneter, trotz des Namens stehe er ja nicht für die Regierung. China ist Brasiliens größter Außenhandelspartner. 75 Prozent des brasilianischen Sojas geht nach China.
Während die ersten Corona-Fälle die obere Mittelklasse trafen, die sich auf ihrem Europa- und USA-Urlaub angesteckt hatten, war einer der ersten Todesfälle eine Hausangestellte, deren Chefin sich in Italien angesteckt hatte. Obwohl ihr Corona-Test positiv war hatte sie ihre Hausangestellte nicht informiert. In Brasilien arbeiten über 6,3 Millionen Frauen als Hausangestellte. Ihre Söhne und Töchter haben nun ein hundertausendfach geteiltes Manifest veröffentlicht, in dem sie fordern, dass ihren Müttern angesichts der Corona-Gefahr sofort dienstfrei gegeben werden müsse, bei vollem Lohnausgleich.
Mittlerweile haben alle Angst vor Corona. Die größte Befürchtung, dass es das Virus in die Favelas der Städte schaffen würde, wo oft weniger als die Hälfte der Menschen über fließend Wasser verfügen, ist am Wochenende eingetreten: Im Stadtviertel Cidade de Deus in Rio de Janeiro ist ein Bewohner positiv auf Corona getestet worden. Die Obdachlosenbewegung MTST sammelt dringend benötigte Spenden, denn viele der Obdachlosen haben gar kein Wasser, auch keine Seife. Nicht auszudenken was Corona anrichten wird, sobald es die indigenen Territorien erreicht. In Pressemeldungen von Ende vergangener Woche (um den 20.3.) wurde über Anzeichen eines Corona-Infektionfalles bei den indigenen Pataxó im Bundesstaat Bahia berichtet.
Und was schlägt Bolsonaro gegen Corona vor? "Werden durch den Virus ein paar sterben? Ja, klar, die werden sterben", so Bolsonaro im Fernsehgespräch. "Wenn es da wen falsch erwischt, dann ist das ebenso. Sorry." Und legt auch gleich dazu seine Beweggründe offen: "Aber wir können da nicht so ein Klima schaffen. Das schadet der Wirtschaft." Da es ihm nicht um Menschen, sondern um die Aufrechterhaltung der Wirtschaft geht, ließ er sein Kabinett auch gleich zur Tat schreiten. Firmen dürfen ab sofort wegen der Corona-Krise die Gehälter und Löhne ihrer Beschäftigten, Angestellten und Arbeitenden um die Hälfte kürzen. Doch auch diese unternehmerfreundliche Maßnahme dürfte der brasilianischen Wirtschaft derzeit nicht weiterhelfen.
Bereits vor Corona stagnierte die Wirtschaft. Die brasilianische Landeswährung Real fiel auf historische Tiefstände. Und dennoch führte die Währungsabwertung kaum zu Exportnachfragen bei Industriegütern, obwohl durch den im Tauschwert sinkenden Real Brasiliens Industrieproduktion doch eigentlich - der Theorie des neoliberalen Wirtschaftsminister und Chicago-Boys Paulo Guedes nach - wettbewerbsfähiger werden sollte. Einzige Ausnahme ist das weiterhin boomende Agrobusiness der Soja- und Fleischexporte, die brennenden Flächen in den Trockensavannen des Cerrados und Amazoniens geben ein beredtes Beispiel davon.
Nun breitet sich durch Corona in der Mittelklasse und bei den Eliten Panik aus. Brasilianische Staatspapiere werden wieder unsicherer und die rund 18.000 Familien im Land, die sich über die Zins- und Zinseszinszahlungen trefflich finanzieren, bekommen nun Angst um ihre Pfründe. Auch ausländische Investoren lassen die Finger von Brasilien, als sei es ein heißes Eisen. Ausländische Kapitalbesitzer zogen im Gesamtjahr 2019 sogar netto noch 44,5 Milliarden Reais von Brasiliens größter Börse Bovespa in São Paulo ab. Der Trend setzte sich dieses Jahr fort, sodass bis zum 4. März, also in gut zwei Monaten, satte 44,8 Milliarden Reais (derzeit umgerechnet acht Milliarden Euro) abgezogen worden sind. Solche Zahlen treibt selbst die kapitalbesitzenden Schichten auf die Balkone und Terrassen, der Kochlöffel kreist nun auch über der Teflon-Pfanne.
So überrascht es wenig, dass übers Wochenende erste konkrete Spekulationen über das baldige Ende der Regierung Bolsonaro die Runde machten. Die Zeitung Congresso em Foco geht davon aus, dass Bolsonaro schneller als gedacht aus dem Amt gedrängt werden könnte und sieht dafür drei Wege: 1) Bolsonaro werde auf dem Weg über eine notwendige (oder vorgeschobene) medizinische Behandlung (sei es wegen Corona, sei es wegen Krebs, sei es wegen Spätfolgen des Messerattentats auf seine Person während des Wahlkampfs 2018) von der de facto-Machtzentrale entfernt. 2) Bolsonaro werde über die Aktionen eines an die Schalthebel der politischen Handlungszentrale rückenden Parlamentarismus zunehmend ausgegrenzt. Eine Variante, die angesichts der sich zuspitzende Corona-Krise vor allem bei den Gouverneur der einzelnen Bundesstaaten zunehmend Anhänger findet, die die Autorität mehr auf die Länder und somit weg von Brasília verlagern wollen. 3) Eine Entmachtung Bolsonaros durch ein Amtsenthebungsverfahren ist eine Möglichkeit, so berichten Medien und berufen sich auf Aussagen von Mitglieder aus Senat und Kongress, die aber (noch) nicht namentlich genannt werden wollen. Jedoch liegen dem Kongress mittlerweile immerhin zehn Anträge auf Amtsenthebung vor. Es scheint eine Frage der, Zeit bis der erste sich traut und damit einen Dominoeffekt der Abtrünnigen in Gang setzt.