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Achim Wahl

Bolsonaro nutzt die Krise und Militärs festigen ihre Position

Zum Zeitpunkt, da der Text geschrieben wurde, hat sich die Zahl der Verstorbenen in Brasilien auf 44.118 und die Zahl der an Covid-19 Infizierten auf 891.556 erhöht. Allein in den letzten 24 Stunden wurden 729 Tote registriert.

Besonders betroffen ist die Nordostregion mit bisher 50% aller Todesfälle, gestorben an COVID-19. Im Landesinnern sind die Gesundheitsbehörden nicht in der Lage, die steigende Anzahl von Infizierten zu versorgen. Verheerende Auswirkungen hat die Pandemie im Staat Pará (Amazonas), einem Bundesstaat mit wenig medizinischen Einrichtungen und einer sozial stark anfälligen Bevölkerung.

Das große stolze Land Brasilien befindet sich in einer katastrophalen Lage. Mit einer Regierung eines verantwortungslos agierenden Präsidenten Bolsonaro, der von Beginn der Corona-Krise an diese als "kleine Grippe" abtat, steht das Land vor dem Abgrund, der sich vor allem vor den breiten Volksmassen auftut. Präsident Bolsonaro lehnt vorbeugende Maßnahmen ab und diskreditiert alle, die sich ihm dabei in den Weg stellen. Einige Gouverneure von Bundesstaaten widersetzten sich offen den "Anweisungen" aus Brasília und führten in ihren Bundesstaaten Beschränkungen ein, um die Ausbreitung des Virus zu stoppen. Umfragen ergaben, dass sich 60% der Bevölkerung für den lockdown aussprachen. 36% sind dagegen. Entsprechend ihrer sozialen Position sprechen sich 67% gegen Beschränkungen aus. Denn Menschen, die in informellen Arbeitsverhältnissen leben, sind darauf angewiesen, ihre kleinen Einkommen auf der Straße, im fliegenden Handel oder durch Gelegenheitsarbeiten abzusichern. Für eine freie Bewegung sprechen sich 35% aus, wobei diese Zahl vor Kurzem noch bei 24% lag. Eine Erklärung dafür ist in der Tatsache zu suchen, dass sich das Virus vor allen in der Peripherie der Ballenzentren und im Landesinneren ausbreitet und wo die Menschen kaum Gelegenheit haben, "zu Hause" zu bleiben oder auf "Abstand" leben zu können. Neben fehlendem "zu Hause" gibt es keine Masken und keine Tests. Eine kleine Minderheit, eben das 1% der Bevölkerung, kann sich isolieren, ohne dabei viel zu verlieren. Unterstützt werden Banken, die innerhalb von zwei Monaten einen Gewinn von 38,8% verzeichneten.

Die von der Regierung versprochenen einmaligen Hilfen von 600 Reais pro Person reichen nicht aus, um das tägliche Leben abzusichern, bzw. den Lohnausfall zu kompensieren. Vielfach erreichte diese "Hilfe" nicht einmal die Betroffenen. Den Banken allerdings hilft der Staat mit 1,2 Billion Reais.

Im internationalen Vergleich liegt Brasilien, die Infizierten und Toten betreffend, nun hinter den USA. Nach Angaben der Stiftung Getúlio Vargas bewegt sich der R-Wert um 3,5, d.h. jede infizierte Person kann mehr als drei weitere anstecken. Täglich kommen 65.000 neu Infizierte hinzu, die Mortalität liegt bei 6%. Brasilien wird zum Epizentrum der weltweiten Pandemie des Covid-19. Das öffentliche Gesundheitswesen ist überfordert. Private Kliniken und Krankenhäuser lehnen die Behandlung von weniger bemittelten Patienten ab.

Das Virus trifft in Brasilien auf eine gespaltene und fragmentierte Gesellschaft. Die Arbeitslosigkeit steigt, Familien müssen sich verschulden, Unternehmen schließen.

Das bisherige Fazit: Brasilien hat eine verantwortungslose Regierung, bzw. einen verantwortungslosen Präsidenten. Das Virus trifft auf eine verwundbare Gesellschaft in tiefer sozialer Ungleichheit.

Ein Ausweg kann nur sein: "Ein lockdown mit sozialer Gerechtigkeit" oder wie es inzwischen bedeutende Teile der Bevölkerung, insbesondere aber linke Parteien, einschließlich der PT, fordern: "Fora Bolsonaro und Mourao" (Weg mit Bolsonaro und Mourao).

Schon vor der Corona-Krise wurde nach dem Amtsantritt Bolsonaros die rechte Offensive eingeleitet. Es begann mit einer Ergänzung der Verfassung, die eine Einschränkung von 20% der Ausgaben für das Bildungswesen vorsieht. Es folgten eine Arbeitsrechtsreform und eine Rentenreform, die in beiden Fällen Verschlechterungen für die Bevölkerung mit sich brachte: Lohnkürzungen und arbeitsrechtliche Einschränkungen. Besonders negativ im Hinblick auf die eingetretene Corona-Krise sind die Einschränkungen des "Einheitlichen Systems für Gesundheit". Nach Anweisung Bolsonaros wurden das Kultur- und Arbeitsministerium aufgelöst. Finanzielle und personelle Einschränkungen wurden den Universitäten auferlegt.

Die FUNAI (Nationales Institut für die Angelegenheiten indigener Völker) wurde an das Familienministerium angegliedert und ihm die Vollmacht genommen, den Schutz indigener Bevölkerungen zu garantieren. Das Institut für Umwelt und Naturressourcen (IBAMA) wurde mit einem Erlass zur Sicherung von Gesetz und der Ordnung direkt dem Militär unterstellt. Damit erhält das Agrobusiness Rechte auf Landzuwachs, Holzunternehmen und Bergwerksunternehmen freie Hand für die Ausbeutung des Amazonasgebietes. Besonders letzteres bedeutet, dass sie in indigene Gebiete vordringen können und diese verdrängen. Viele indigene Völker sind schutzlos den Eindringlingen und dem Virus ausgesetzt. Durch die Förderung des Agrobusiness werden die in Brasilien so wichtigen landwirtschaftlichen Familienbetriebe eingeschränkt.

Das Vorgehen der Bolsonaro-Regierung hat Methode. Denn Wirtschaftsminister Guedes nutzt die Pandemie, um eingeleitete Privatisierungen zu vollenden und andere zügig nachzuziehen. Weitere Deregulierungen werden folgen. Betreiber dieses ultraneoliberalen Modells ist Wirtschaftsminister Guedes, der erklärte: "Wir werden Geld machen, indem wir öffentliche Gelder den großen Unternehmen geben und würden Geld verlieren, wenn wir es kleinen Unternehmen geben." Er machte unmissverständlich klar, dass er die Banco do Brasil, die brasilianische Nationalbank, privatisieren will, die Anfang 2020 einen Gewinn von 3,3 Mrd. Reais erzielte. Guedes agiert gegen das Land und für den Markt.

Nach Meinung oppositioneller Kräfte nutzen Bolsonaro und Guedes die Corona-Krise, um dieses Modell "in aller Ruhe" durchzusetzen. Denn die Gesellschaft ist gelähmt und Gegenkräfte können leicht entwaffnet werden, wenn sie "leichtfertig auf die Straße gehen." Das ultraliberale Modell hat die Unterstützung der Militärs, der Polizei und der konservativen evangelikalen Kirchen.

Aber es gibt Risse im System. So strebt die extreme Rechte danach, ihre Positionen in der Exekutive zu festigen und will alle sozialen Probleme als Polizeiangelegenheit behandeln. Andere Sektoren wollen ihren Einfluss in den Bundesstaaten, den Munizipien, in der Legislative und der Judikative nicht verlieren.

Gegenwärtig zeichnen sich drei Varianten in der weiteren Entwicklung und der Streitpunkte innerhalb des herrschenden Lagers ab:

  • Entweder ist kommt zu einer Übereinkunft zwischen den rivalisierenden Sektoren,
  • der Bolsonaro-Clan behält die Oberhand oder
  • er erleidet eine Niederlage.

Allerdings scheint die sicherste Variante die erstere zu sein, d.h. eine Übereinkunft im Sinne des ultraliberalen Programms unter "Vormundschaft" der Militärs. Damit wird die Tendenz zu restriktiveren, autoritäreren Maßnahmen, gegen die Demokratie verstärkt.

Die New York Times bringt in einer Materie vom 10. Juni die Befürchtung zum Ausdruck, dass "in Brasilien ein Militärputsch droht, währenddessen sich die Todeszahlen durch das Virus erhöhen." Denn – so die Zeitung – drohen Bolsonaro und seine Unterstützer mit einem militärischen Eingreifen, um ihre Macht zu sichern. Das Problem aber sei, dass die Militärs nie einen Putsch gegen eine rechte Regierung durchgeführt hätten. Deshalb streben sie im Rahmen dieser Regierung nach mehr autoritärem Staat. Sie bremsen nicht einen verantwortungslosen Präsidenten, sondern "bolsonarisieren" sich und erfinden immer mehr "innere Feinde".

Mit dieser politischen Ausrichtung wird Brasilien in ein reines Rohstoffexportland verwandelt und unter Bolsonaro zu einem "Mafiastaat" degradiert, der vom Militär und Polizei gestützt wird. Die Militärs scheinen nicht gewillt zu sein, sich gegen die Machenschaften Bolsonaros zu stellen, der aber die Militärs mit der Militärrentenreform und der Erhöhung ihrer Gehälter zufriedengestellt hat.

Mit der hohen Zahl von Militärs in Regierungsposten (s.o.) wollen sie an den Großgeschäften des Kapitals partizipieren, neue Technologien einführen, neue militärische Ausrüstungen erwerben (beginnend bei nukleargetriebenen Unterseebooten bis zu Nuklearanlagen) und vielleicht auch den Bau einer Atombombe planen. Und das alles befürwortet durch die USA und unter ihrem Schutz.

Es ist vorauszusehen, dass die Militärs ihre Tentakel im öffentlichen Leben weiter ausstrecken und Bolsonaro insoweit "einhegen" werden, dass er seine wirren Ideen weiterhin verbreiten kann, ohne ihn in seinem Vorgehen gegen das Volk zu bremsen. Allerdings ist das ein gefährliches Spiel, denn mit dem Präsidentenerlass zur weitgehend freien Verfügung über Waffen und Munition im privaten Besitz ermöglicht er den sog. "Milizen", die von einem seiner Söhne dirigiert werden, sich zu verstärken und seinen Anhängern, die Möglichkeit sich zu bewaffnen.